Ihr Jungfern, hört die Schreckenskunde

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Ihr Jungfern, hört die Schreckenskunde ist ein deutsches Volks- oder Küchenlied. Es ist auch unter den Titeln Auerstedter Jungfernlied, Tod aus Verzweiflung, Verstoßen, Tod auf den Schienen, Sie war ein Mädchen von achtzehn Jahren, Der Zug von Hamburg und Das Lied vom Eisenbahnunglück bekannt. Es wurde mindestens einmal, eventuell auch zweimal fürs MOSAIK verwendet, zudem einmal in einem Fanfiction-Roman.

Inhaltsverzeichnis

Anspielungen im MOSAIK

In der Amerika-Serie des Mosaik von Hannes Hegen reisen die Digedags und ihre Begleiter mit der Panamabahn von Panama City nach Aspinwall. Nach einem Überfall auf halber Strecke müssen sie mit dem Gepäckwagen ohne Lokomotive weiterfahren. Pedro, der stärkste Mann der Welt, schiebt den Wagen an und springt auf. Als sich der Wagen auf abschüssiger Strecke dem Ziel nähert, versucht er vergeblich, ihn mit Hilfe der Bremskurbel anzuhalten. Die Stelle wird mit den Worten "Unterdessen drehte Pedro mit gewaltiger Hand an der Bremskurbel" beschrieben. Das erinnert an eine Stelle im Küchenlied: "Der Schaffner hat es wohl gesehen, / er bremste mit gewalt'ger Hand." (siehe unten).

In der Reformations-Serie des Mosaik ab 1976 verkündet ein kaiserlicher Bote in Wittenberg den Tod Kaiser Maximilians I. Er beginnt mit den Worten "Ihr Bürger, hört die Schreckenskunde, die sich zutrug an fernem Ort!" Das ist eine Anspielung auf die ersten Zeilen des Küchenlieds: "Ihr Jungfern, hört die Schreckenskunde, / die sich zutrug in unsrer Stadt" (siehe unten).

Anspielung im Roman

Im Fanfiction-Roman Die goldene Rübe dichtet Ritter Runkel auf der Reise nach Trapezunt zu einer "alten Weise" ein kleines Liedchen:

Er ging von Ormuz über Bagdad
bis ganz hinauf nach Trapezunt.
Er tat sein Haupt auf Rosen betten,
bis dass das Schiff nach Hause kummt.

Das klingt doch sehr nach der Strophe aus dem Schreckenskunde-Lied, in der die gefallene Jungfer von A nach B geht und bei C ihr Haupt auf Schienen legt, bis der Zug aus D kommt.

Texte

Geschichte des Liedes

Das Lied ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts belegt, geht aber auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Die Melodie ist die der Schnulze Seht ihr drei Rosse vor dem Wagen (die wiederum auf das russische Volkslied Вот мчится тройка почтовая Vot mtschitsja trojka potschtovaja = "Da saust die Post-Troika" zurückgeht). Als Autorin gilt die Heimatdichterin und Märchenerzählerin Therese Schlegel, geborene Kodritsch (1830-1918), aus Auerstedt (berühmt durch die Doppelschlacht von Jena und Auerstedt 1806, heute ein Ortsteil von Bad Sulza zwischen Naumburg und Weimar). Das geschilderte Drama soll auf eine wahre Begebenheit zurückgehen; der terminus post quem hierfür ist der 19. Dezember 1846, als die Eisenbahnstrecke zwischen Naumburg und Weimar eröffnet wurde. Dem Volkskundler und Musikhistoriker Max Adler zufolge, der sich 1901 auf die Recherchen eines Direktors von Schulpforta und eines Zeitungsredakteurs aus Naumburg stützte, die wiederum Zeitzeugen befragt haben sollen, trug sich das Ereignis etwa 1869 zu, und die Selbstmörderin war eine Marie S. aus Bergsulza. Dem Heimathistoriker Benno Liebers zufolge, der sich 1935 auf eine Schwester Therese Schlegels namens Wilhelmine Losche (1843 - nach 1928) berufen kann, trug es sich hingegen in den 1850er Jahren zu, und die Selbstmörderin war die gefeierte Dorfschönheit Karoline Hinkel aus Auerstedt (oder Bergsulza).

Wie auch immer, das Lied verbreitete sich recht zügig im gesamten deutschen Sprachraum, wobei der Wortlaut und die Strophenzahl ständigem Wandel unterworfen waren - so wurde z.B. das wenig bekannte Kösen gerne zu Bremen "korrigiert", worauf Naumburg in Hamburg geändert wurde. Joachim Ringelnatz wiederum schildert in seinen Erinnerungen Mein Leben bis zum Kriege, dass eines der Kindermädchen seiner Familie namens Anna das Lied um 1890 herum sang, wobei die Handlung diesmal in Breslau spielt - was wohl darauf hindeutet, dass das Mädchen aus Schlesien stammte (Ringelnatz überliefert den ergreifenden Refrain "Ich will mein Haupt auf Schienen legen, Dieweil der Zug von Breslau kam" und bestätigt die Melodie nach Seht ihr drei Rosse vor dem Wagen). Auch im NS-Propagandafilm für den "Freiwilligen Arbeitsdienst" Ich für dich - du für mich aus dem Jahre 1934 ist das Lied zu hören.

Frühe Fassungen

Im Folgenden werden zunächst diverse frühe Fassungen des Küchenliedes nebeneinander gestellt; die eingeklammerten Strophen dürften sogenannte "Wanderstrophen" sein, die aus anderen Liedern hier eingefügt wurden.

1901 im Saaleland 1902 in der badischen Pfalz 1906 im Böhmerwald
Zütschdorf Handschuhsheim Kirchardt Deutschhaidl

1.
Hört, Jungfraun, welch' ein Schreckenskunde,
die sich zutrug in unsrer Stadt,
von einem falschen Liebesbunde,
den falsche Lieb gestiftet hat.

2.
Ein Mädchen, noch so jung an Jahren,
verführt durch Männerschmeichelei,
sie hatte bei sich selbst erfahren
und wußte, daß sie Mutter sei.

3.
Den ganzen Tag rang sie die Hände
und sprach: "Ach Gott, verlaß mich nicht!"
Weil ihre eigne Schuld sie kränkte -
sie suchte Ruh und fand sie nicht.

4.
Vom Mutterherzen ganz verstoßen
ging sie eins Tages mittags aus;
sie hatte bei sich selbst beschlossen,
nicht wiederzukehren ins Elternhaus.

5.
Von Sulza ging sie bis nach Kösen,
und bei Schulpforta auf die Bahn,
sie tat ihr Haupt auf Schienen legen,
weil eben der Zug von Naumburg kam.

6.
Die Schaffner hatten sie gesehen,
sie bremsten mit gewalt'ger Hand,
allein der Zug, der blieb nicht stehen,
ihr Haupt rollt blutrot in den Sand.

7.
Die Schüler von Schulpforta haben,
weil niemand sie gekennet hat,
aus Mitleid sie so schön begraben,
Gott lohne ihre edle Tat.

8.
(Ach Gott vergib ihr ihre Sünden,
dieweil sie die Verzweiflung trieb,
ihr war das Glück nicht mehr beschieden,
ihr wollten Rosen nicht mehr blühn.)

1.
Ein Mädchen schön und jung von Jahren,
verführt von eines Burschen Hand,
allein sie hat schon längst erfahren,
was falsche Liebe stiften kann.













2.
Vom Elternhaus ward sie verstoßen,
das war für sie ein harter Graus.
In ihrem Herzen war's beschlossen,
nie wieder zu kehren ins Elternhaus.

3.
Sie ging von Hamburg bis nach Bremen,
sie faßte sich den harten Plan,
sie wollt' ihr Haupt auf's Schienen legen,
grad' wo der Zug von Hamburg kam.

4.
Die Schaffner hatten's längst gesehen,
sie bremsten ein es mit Gewalt.
Allein der Zug, er blieb nicht stehen,
ihr Haupt rollt blutend in den Sand.

5.
(Blaue Äuglein, blonde Haaren,
die haben mich verrückt gemacht.
Und wer's nicht glaubt, der soll's erfahren,
was falsche Liebe stiften kann.)

1.
Ein Mädchen von den  besten Jahren,
die solche Tat verübet hat,
die kann und muß es jetzt erfahren,
was falsche Lieb' für Folgen hat.

2.
Ihr Herz war gänzlich hingerissen
von eines Burschen Schmeichelei.
Im Stillen tut sie Tränen gießen,
sie fühlte, daß sie Mutter sei.







3.
Vom Mutterherzen ganz verstoßen,
ging sie an Donnerstag Mittag aus,
in ihrem Herzen fest entschlossen,
nie wieder zu kehren ins Elternhaus.

4.
Sie ging gerad' nach der Stadt Gesen
wo grad' der Zug von Hamburg kam.
Auf d' Schienen tut sie sich hinlegen,
daß ihre Schand' ein Ende nahm.

5.
Die Schaffner haben dies gesehen,
sie bremsten mit Gewalt heran,
allein der Zug, der blieb nicht stehen,
ihr Haupt rollt blutend in den Sand.

6.
Die Kinder kommen von der Schule.
Weil niemand sie erkennet hat,
begrub man sie ins Tal der Schönen,
Gott lohne ihre edle Tat.

1.
Ein Mädchen noch von jungen Jahren,
die ihre Tat vollführet hat,
sie soll und muß es noch erfahren,
was falsche Lieb' für Folgen hat.

2.
Das Mädchen war ja hingerichtet
durch eines Jünglings Heuchlerei;
ihr Herz, das war ja ganz zerrissen,
sie fühlte, daß sie Mutter sei.







3.
Von ihren Eltern ganz verstoßen.
ging sie des Sonntags einmal aus;
sie hat sich's fest ins Herz geschlossen,
nicht mehr zu kehr'n ins Elternhaus.

4.
Sie ging von Ecken bis nach Bremen,
von dort an ging sie auf der Bahn,
wo sie ihr Haupt auf Schienen legte,
bis daß der Zug von Hamburg kam.

5.
Die Schaffner hatten sie gesehen,
sie bremsten mit gewaltiger Hand;
allein der Zug, der bleibt nicht stehen,
ihr Haupt rollt blutig in den Sand.

6.
Als ihre Eltern dies erfahren
von ihrer Tochter Schmerzenstod,
da rangen beide sich die Hände
und schrien laut: Verzeih' es Gott!

7.
Sie haben ihr die Tür geöffnet
und haben sie verzagt gemacht.
Weil sie des Jünglings Wunsch erfüllet,
hat ihr das bitt're Grab gebracht.

Spätere Fassungen

Es folgen zwei spätere Fassungen des Liedes, zunächst die fragmentarische aus dem Film Ich für dich - du für mich von 1934. Hier wird das Lied in einem Lager des "Freiwilligen Arbeitsdienstes" von einer bedrückten jungen Frau namens Alma gesungen - es geht in der Szene (wie im ganzen Film) darum, ob die lange Abwesenheit von zu Hause Auswirkungen auf die Beziehungen der Frauen zu ihren Männern hat. Alma lässt die Prolog-Strophe weg sowie die Strophe, in der der eigentliche Selbstmord geschildert wird. Auch die letzte Strophe kriegt sie nicht mehr vollständig über die Lippen.

Danach kommt - als Referenztext fürs MOSAIK und die Fanfiction - die Variante der Gruppe Hackstock von der Schallplatte Wenn die Blümlein draußen zittern von 1979, die fünf Jahre später wortgetreu im Notenbüchlein In des Nachbarn Gartenlaube abgedruckt wurde. Hier fehlt - wie bei allen Fassungen außer der zuerst belegten - die Strophe über das Händeringen sowie die Epilog-Strophe mit der Moral von der Geschicht', dafür gibt es eine neue Strophe mittendrin über drei Studenten.

Beide Fassungen kommen ansonsten der Erstversion aus dem Saaletal sehr nahe. Freilich ist aus Kösen nunmehr Bad Kösen geworden, denn das Städtchen ist mittlerweile Kurort (offiziell wurde die Namenserweiterung erst am 6. November 1935 eingeführt, war aber umgangssprachlich schon viel länger in Gebrauch; so hieß auch der Bahnhof schon seit 1907 "Station Bad Kösen").

Drittes Reich DDR
Ich für dich - du für mich (1934) Hackstock (1979) / In des Nachbarn Gartenlaube (1984)







1.
Es war ein Mädchen, jung an Jahren,
verführt durch Männerheuchelei.
Die mußte schon so früh erfahren,
daß sie bald eine Mutter sei.

2.
Vom Elternhause ganz verstoßen,
ging sie am Sonntag weit hinaus.
Sie hat in ihrem Herz beschlossen,
nie heimzukehr'n ins Elternhaus.

3.
Sie ging von Sulza nach Bad Kösen,
und bei Schulpforta auf der Bahn
tät sie ihr Haupt auf Schienen legen,
weil grad der Zug aus Naumburg kam.













4.
Die Schüler von Schulpforta kamen
[...]

1.
Ihr Jungfern, hört die Schreckenskunde,
die sich zutrug in unsrer Stadt,
verpflanzet sie von Mund zu Munde,
was falsche Lieb für Folgen hat.

2.
Sie war ein Mädchen von achtzehn Jahren,
verführt von Männerschmeichelei.
Sie mußte schon so früh erfahren,
daß sie bald eine Mutter sei.

3.
Die Eltern hatten's auch erfahren,
das Mieder wurd' ihr schon zu klein.
Der Vater riß sie bei den Haaren,
sie sollt' und mußt' verstoßen sein.

4.
Sie ging von Sulza bis Bad Kösen,
und bei Schulpforta an der Bahn
tat sie ihr Haupt auf Schienen legen,
bis daß der Zug von Naumburg kam.

5.
Der Schaffner hat es wohl gesehen,
er bremste mit gewalt'ger Hand.
Jedoch der Zug kam nicht zum Stehen -
ihr junges Blut floß in den Sand.

6.
Dem Zug entstiegen drei Studenten,
der eine bleich von Angesicht.
Und als er dann die Leich erblickte,
da sprach er: Nein, das wollt' ich nicht!

7.
Die Schüler aus Schulpforta kamen
und nahmen sich der Leiche an.
Sie taten sie so schön begraben,
weil sie's aus Liebe hat getan.

Quellen

Auf Ihr Jungfern, hört die Schreckenskunde wird in folgenden Publikationen angespielt

Mosaik von Hannes Hegen: 202

Mosaik ab 1976: 497

Fanfiction: Die goldene Rübe
Persönliche Werkzeuge