Altes chinesisches Volkslied

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Die Einwohner Shao Pings feiern singend ihren Retter, die Mongolen müssen machtlos zuschauen.

Das alte chinesische Volkslied wird in der Japan-China-Serie gesungen.

Die Bürger Shao Pings stimmen es zu Ehren von Li an, der von seinem Geld alle Frauen der Stadt aus der mongolischen Gefangenschaft freigekauft hat. Der subversive Text erregt das Missfallen des Statthalters Matscho, er vermutet einen Aufruhr dahinter. Doch da Li seine Soldaten zuvor mit Kumys besoffen gemacht hat, kann er nicht verhindern, dass das Lied gesungen wird.

Inhaltsverzeichnis

Text des Liedes

Wenn die Sonne aufgeht,
dann erheben wir uns.
Wenn die Sonne untergeht,
dann gehen wir zur Ruhe!
Wir graben Brunnen und trinken,
Wir pflügen Felder und essen,
Was kümmert uns die Macht des Herrschers?

Hintergründe

Identifizierung

Im MOSAIK wird in einer Fußnote gleich erklärt, dass es sich um ein altes chinesisches Volkslied handele. Es ist in der Tat sehr beliebt und wird weltweit oft zitiert. Sein Titel lautet 擊壤歌 Jī rǎng gē, zu deutsch etwa "Schlag-die-Erde-Lied", wobei es sich bei 擊壤 Jī rǎng ("Schlag die Erde") um ein uraltes Spiel handelt, bei dem man einen im Boden steckenden Holzpfosten mit Wurfhölzern aus der Entfernung treffen muss. Buchstäblich die Erde geschlagen wird dabei nicht.

Der chinesische Text des Jī rǎng gē mit Umschrift, Zeichenübertragung und möglichst genauer, aber am MOSAIK orientierter Übersetzung lautet:

日 出 而 作
日 入 而 息
鑿 井 而 飲
耕 田 而 食
帝 何 力 於 我 哉

rì chū ér zuò
rì rù ér xí
záo jǐng ér yǐn
gēng tián ér shí
dì hé lì yú wǒ zāi

Sonne - hinausgehen - und dann - aufstehen und arbeiten
Sonne - hereinkommen - und dann - ruhen
graben - Brunnen - und dann - trinken
pflügen - Feld - und dann - essen
Kaiser - was - Macht - über - mich/uns - ?

Wenn die Sonne aufgeht, dann erheben wir uns und arbeiten.
Wenn die Sonne untergeht, dann begeben wir uns zur Ruhe.
Wir graben Brunnen und trinken dann.
Wir pflügen Felder und essen dann.
Welche Macht hat der Kaiser über uns?

Dabei ist die letzte Zeile gelegentlich auch etwas anders überliefert (帝 力 於 我 何 有 哉), inhaltlich aber identisch. Interessanterweise kann man diese Zeile auch als Aussagesatz lesen, wobei er natürlich seine Subversivität verliert und die schützende Macht des Kaisers lobt, à la "Derart also ist die Macht des Kaisers über mich".

Auf dieser Website kann man sich das Lied gesprochen und gesungen anhören.

Direkte Quelle

Das Lied entnahm Walter Hackel, der damalige Autor des MOSAIK, dem Buch Kultur im alten China von Walter Böttger. Diesem Buch zufolge soll das Lied aus einem der ältesten Zeugnisse der chinesischen Literatur stammen, dem Schidjing (Shījīng, Schi-King, "Buch der Lieder"). Dies ist eine - der Legende nach von Konfuzius redigierte - Liedersammlung, deren älteste Teile auf das 2. Jahrtausend v.u.Z. zurückgehen sollen. Dies ist jedoch ein verbreiteter Irrtum - das Lied ist nicht im berühmten Shījīng enthalten, sondern stammt aus einer anderen Liedersammlung.

Ursprünge

Erste Spuren des Jī rǎng gē findet man im 南華眞經 Nánhuá zhēnjīng, dem Wahren Buch vom südlichen Blütenland des 莊子 Zhuāngzǐ (Dschuang Dsi) und seiner Nachfolger. Dieses Werk fand seine heutige Textgestalt im 3. Jahrhundert u.Z. durch den Herausgeber 郭象 Guō Xiàng (253-312), soll aber auf deutlich frühere Texte zurückgehen. Im 28. Kapitel 讓王 Ràng wáng ("Rücktritt von Königen") wird geschildert, wie der legendäre Kaiser 舜 Shùn der chinesischen Frühzeit (angebliche Regierungszeit 2233-2184 v.u.Z.) dem Einsiedler 善卷 Shàn Juǎn die Herrschaft über das Reich anbot. Dieser lehnte jedoch mit folgender Begründung ab:

Chinesischer Text Übersetzung

余 立 於 宇 宙 之 中。
冬 日 衣 皮 毛,
夏 日 衣 葛 絺,
春 耕 種,形 足 以 勞 動,
秋 收 斂,身 足 以 休 息。
日 出 而 作,日 入 而 息,
逍 遙 於 天 地 之 間 而 心 意 自 得。
吾 何 以 天 下 為 哉?
悲 夫!子 之 不 知 余 也!

Ich bin eine Einheit inmitten von Raum und Zeit.
Im Winter trage ich Felle und Pelze,
im Sommer Graskleider und Leinen,
im Frühling pflüge und säe ich, meine Kraft gleicht der Ackererde;
im Herbst ernte ich, ich höre auf zu arbeiten und esse.
Wenn die Sonne aufgeht, dann erhebe ich mich und arbeite; wenn die Sonne untergeht, dann begebe ich mich zur Ruhe,
und so genieße ich mein Leben zwischen Himmel und Erde, und mein Geist ist zufrieden.
Was habe ich denn mit dem Reich zu tun?
Ach weh! Daß Ihr, Herr, mich nicht besser kennt!

Darauf verschwand der Einsiedler in den Bergen und ward nie mehr gesehen. Einige Passagen - vor allem die Zeilen 6 und 8 - erinnern hierbei schon an das Jī rǎng gē. Die Bezeichnung für die weltliche Macht bzw. die Herrschaft über das Reich in Zeile 8 wird mit dem Konzept 天下 Tiānxià (wörtlich: "unterm Himmel") ausgedrückt.

Der gelehrte Arzt 皇甫謐 Huáng​fǔ Mì (215-282 u.Z.) führt das Lied in zweien seiner Werke auf: im 帝王世紀 Dìwáng shìjì, einer Sammlung von genealogischen Aufzeichnungen zu Kaisern und Königen, und im 高士傳 Gāoshì zhuàn ("Biographien hochstehender Edelmänner"). Zunächst zu ersterem. Das Dìwáng shìjì ist nicht erhalten, sondern nur über Auszüge und Zitate bei späteren Autoren teilweise rekonstruiert. Für unsere Zwecke interessant ist hierbei eine Stelle, in der die idyllische Zeit unter dem Urkaiser 堯 Yáo (legendäre Regierungszeit 2353–2234 v.u.Z.) geschildert wird - dem direkten Vorgänger des oben erwähnten Kaisers Shùn. Diese lautet den diversen Gewährsmännern zufolge so:

Yìwén lèijù (7. Jhd.) / in eckigen Klammern: Tàipíng yùlǎn (10. Jhd.)
Chinesischer Text Übersetzung

有 五 十 [八 十] 老 人 擊 壤 於 道.
觀 者 歎 曰:
"大 哉 帝 之 德 也."
老 人 曰:
"吾 日 出 而 作,
日 入 而 息.
鑿 井 而 飲,
耕 田 而 食.
帝 何 力 於 我 哉?!"

Es gab 50 [oder 80] Alte, die am Weg das Jī-rǎng-Spiel spielten.
Jemand, der es beobachtete, sprach seufzend:
"Oh, groß ist die Tugend des Kaisers!"
Die Alten sprachen:
"Wenn die Sonne aufgeht, dann erheben wir uns und arbeiten,
wenn die Sonne untergeht, dann begeben wir uns zur Ruhe.
Wir graben Brunnen und trinken,
wir pflügen Felder und essen.
Welche Macht hat der Kaiser über uns?!"

Sehr ähnlich, wenn auch etwas kürzer, wird die entsprechende Stelle des Dìwáng shìjì in der großen Liedersammlung 樂府詩集 Yuèfǔ shījí ("Musikamts-Lieder") von 郭茂倩 Guō Màoqiàn aus dem 12. Jahrhundert zitiert. Hier sind es 80 oder 90 alte Männer, die das Lied als Begleitung zum Jī-rǎng-Spiel singen. Im Yuèfǔ shījí wird erstmalig der Titel Jī rǎng gē für das Lied genannt.

Nun zum anderen Werk von Huáng​fǔ Mì, in dem er unser Lied verarbeitet, dem Gāoshì zhuàn. Hier schreibt er:

Rǎngfù lebte zur Zeit des Yao. [...] Rǎngfù war schon über 80 Jahre und spielte das Jī-rǎng-Spiel auf dem Weg. Jemand, der es beobachtete, sprach seufzend [etc.]

Aus 50 oder 80 alten Männern ist hier also ein einzelner, 80 Jahre alter Mann geworden, der auch noch nach dem Jī-rǎng-Spiel benannt ist (壤父 Rǎngfù bedeutet "Vater Rǎng").

Wer auch immer in welcher Anzahl das Jī rǎng gē gesungen hat - indem es in der oben erwähnten Liedersammlung Yuèfǔ shījí erschienen ist, fand es von hier aus große Bekanntheit und Verbreitung. Bei diesem Liederbuch handelt es sich um eine Zusammenstellung so genannter "Musikamts-Lieder". Dieses populäre Genre geht auf in der Han-Periode (206 v.u.Z. bis 220 u.Z.) vom kaiserlichen Musikamt gesammelte Volkslieder zurück, wobei die im Yuèfǔ shījí zusammengestellten Lieder zum größeren Teil erst später entstanden sind. Vermutlich über das bekannte Liederbuch 古謠諺 Gǔyáoyàn ("Alte Balladen und Sprichwörter") von 杜文瀾 Dù Wénlán aus dem Jahre 1861 gelangte das Jī rǎng gē schließlich in den Westen, wo es z.B. von Ezra Pound und Ernst Jünger aufgegriffen wurde - letzterer kannte es als Lied der chinesischen Alten beim Schlagholzspiel.

Seine Herkunft aus Werken wie dem Dìwáng shìjì und dem Yuèfǔ shījí scheint für das verbreitete Missverständnis verantwortlich zu sein, es stamme aus dem konfuzianischen Shījīng ("Buch der Lieder"). Im MOSAIK hat man das erfreulicherweise etwas vorsichtiger formuliert - ein altes chinesisches Volkslied ist das Jī rǎng gē allemal.

Externe Verweise

Jī rǎng gē

Shījīng

Zhuāngzǐ: Nánhuá zhēnjīng (3. Jhd.)

Huáng​fǔ Mì: Dìwáng shìjì und Gāoshì zhuàn (3. Jhd.)

Guō Màoqiàn: Yuèfǔ shījí (12. Jhd.)

Dù Wénlán: Gǔyáoyàn (19. Jhd.)

Das Lied wird im folgenden Mosaikheft gesungen

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